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Wachkoma einfach erklärt

Kontaktaufnahme und Dialogaufbau mit Menschen im Wachkoma

Seit 1990 arbeite ich, Inge Fierlej, mit Menschen im "apallischen Syndrom" und Wachkoma und möchte von meinen Erfahrungen mit diesem Patientenklientel berichten. Das "apallische Syndrom" ist ein Krankheitsbild, dass durch unsere immer weiter fortschreitende Intensivmedizin produziert wird. Vor cirka 15 bis 20 Jahren gab es dieses Krankheitsbild nur sehr selten. Denn die Medizin hatte nicht die Möglichkeiten diese schwerstverletzten Menschen am Leben zu erhalten. Es handelt sich also um ein Krankheitsbild, dass durch unsere "Hightech-Gesellschaft" Einzug in unser Leben genommen hat. Es handelt sich ebenfalls um ein Krankheitsbild, dass nicht nur alte Menschen betrifft; nein, es sind überwiegend junge Menschen. Menschen wie Sie und ich! Ich möchte nicht den Eindruck vermitteln, ein Gegner der Intensivmedizin zu sein. Denn ich komme selber aus dem Bereich und weiß, was Ärzte dort vor Ort leisten. Ich möchte damit vielmehr an unsere Gesellschaft appellieren, dass der relativ kleine Prozentsatz der "auf der Stecke gebliebenen", nämlich die Langzeitpatienten der Phase F, ein Recht auf eine adäquate Pflege, Betreuung und Therapie haben. Wir nennen uns Sozialstaat und ein Sozialstaat hat die Pflicht, jedem Bürger dieses zu gewährleisten und ihn nicht nur "satt und sauber" zu halten.

Es handelt sich bei einem apallischen Syndrom um einen Funktionsausfall des menschlichen Großhirns und ist das Resultat einer schwerwiegenden Verletzung der selbstständigen Ausdrucksmöglichkeit. Wachkoma hat eine Schutzfunktion und ist somit eine sinnvolle Lebensmöglichkeit. Wachkoma ist also kein pathologisch abgespaltener Zustand, sondern eine reale Lebensform. Also gibt es in diesem Zusammenhang auch keine "rehabilitationsunfähigen" Patienten - es sei denn, dass der Tod eintritt! Bei einem "apallischen Syndrom" handelt es sich um einen dynamischen Zustand. Deswegen wird in Fachkreisen von einem "apallischen Durchgangssyndrom" gesprochen. Wir unterteilen diesen Prozess in sieben Remissionsstufen. Diese Stufen sind wissenschaftlich nicht belegbar. Sie basieren auf jahrelangen Beobachtungs- und Erfahrungswerten. Erwacht ein Betroffener aus dem Koma, hat er mit Sicherheit alle Stufen durchlebt. Die Verweildauer in jeder der sieben Remissionsstufen ist ganz individuell. Es gibt keine erkennbaren Regelzeichen. Auch ein "Steckenbleiben" in einer Phase ist möglich. Denn der Mensch im Wachkoma bestimmt, wie weit er gehen und wie lange er in jeder Stufe verbleiben möchte. Wir haben durch unsere Erfahrungen im Umgang mit Menschen im Koma folgende Theorie entwickelt:

N nicht L
E erfassbares E
B Bewusstsein B
E elementarer E
L Lebendigkeit N

Es stellt sich jetzt die Frage, wie trete ich mit einem Menschen in Kontakt, der für mich keine gewohnten Zeichen der Kommunikation aufweist? "Dialog" ist heute oft zum Schlagwort geworden. Jeder spricht davon, doch die Wenigsten kennen die Bedeutung. Dialog heißt soviel wie "Wechselrede" oder "Zwiegespräch". Im Gegensatz zum starren Austausch von Fakten in einer Diskussion, benötigt der Dialog eine dynamische Entwicklungsphase Offenheit und radikaler Respekt gegenüber dem Dialogpartner sind Voraussetzung. Frühe Dialoge sind eine elementare Form von Kommunikation, Austausch, Vermittlung und Beziehung zwischen Patienten, Pflegekräften und Therapeuten. Es ist eine spannende und kreative Erfahrung zu entdecken, wie wir über den Dialog eine andere Denkstruktur entwickeln können.

Der Mensch wird am DU zum ICH

Wichtig ist, dass schon auf den Intensivstationen mit diesem Dialogaufbau begonnen wird, um so ein "Steckenbleiben" zu verhindern. Das bedeutet allerdings auch, dass die Intensivstationen für Angehörige und Freunde der Patienten zugänglicher gemacht werden müssen. Denn sie sind der Schlüssel, um in die Welt eines komatösen Menschen zu gelangen. Sie muss der komatöse Mensch nicht erst einmal kennen lernen, zu ihnen besteht eine emotionale Nähe und Vertrauen. Und diese beiden Faktoren sind der Grundstein für eine Dialogbereitschaft. Es handelt sich hierbei um Bestandteile der "Basalen Stimulation". Dieser Begriff steht für einen respektvollen Umgang. Und ebenfalls für die Gestaltung eines abwechslungsreichen, der jeweiligen Situation angepassten Lebens mit Menschen, die in ihrer Wahrnehmung beeinträchtigt sind. Über die Ansprache aller Sinne regt man die Wahrnehmung an, damit sich der komatöse Mensch in seiner Umwelt wieder zurechtfindet und mit seiner Umwelt wieder in Kontakt treten kann. Wichtig: Werden Sinne ungenügend oder negativ angeregt, so verkümmern sie. Die Folge ist: neben dem krankheitsbedingten Zustand der innere Rückzug und die Isolation!

Wir müssen also den Dialog suchen, finden, gestalten, erhalten, stabilisieren, formulieren und definieren. Als Begleiter ist es unsere Verpflichtung, den in ihrer Wahrnehmung beeinträchtigten Menschen dort zu begegnen wo er sich befindet. Ich werde früher oder später eine Distanz zum Patienten durchbrechen müssen und auch wollen, wenn ich eine stabile Pflegebeziehung konzipieren möchte. Es bedarf also einer angemessenen emotionalen Nähe, jedoch ebenso einer angemessenen emotionalen Distanz.

Zum Abschluss meiner Ausführungen möchte ich ihnen unsere Präambel vorlesen:

Menschen im Wachkoma sind unsere Mitbürger. Sie sind durch ihre individuelle Pathogenese dem Leben, ihrem Umfeld, ihrem Partner, ihrem Familien- und Freundeskreis, ihren vertrauten Gewohnheiten, eben ihrem Selbst entrissen und nicht zurückgegeben. Diese Menschen befinden sich in der Warteschleife zwischen Leben und Tod. Unsere Aufgabe ist es, sie in dieser Situation nicht allein zu lassen, die Einsamkeit ihres Seins aufzubrechen, sie in das Leben zurück zu locken, sie in ihrem Sterben zu begleiten.

Jegliche Willkür an ihnen bedeutet für diese Menschen eine Kränkung ihrer gesamten Persönlichkeit.

Jegliche Missachtung ihrer Person nimmt ihnen Hoffnung auf Leben. Jede Kränkung, die diese Menschen erfahren, verhindert einen würdevollen Tod.

Inge Fierlej / Heimleitung der Phase F Fachpflegeeinrichtung "Noi Vita"

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